Donnerstag, 15. Januar 2015

Stille - Kapitel 3

Hallo ihr lieben,

hier ist das dritte Kapitel zu meinem Blogroman "Stille". Dieses Mal geht es wieder bei Mia weiter.

Wenn ihr gerade zum ersten Mal hier beim Blogroman gelandet seid oder die letzte Folge verpasst habt:
Hier gehts zum 1. Kapitel
Hier gehts zum 2. Kapitel




Kapitel 3


Wie benebelt lief sie durch die weißen Flure des Krankenhauses. Links und rechts eine Tür nach der anderen, Ärzte und Schwestern, die an ihnen vorbei eilten oder ihr aufmunternd zu lächelten. Vor ihr lief eine Schwester im weißen Kittel. Hinter ihr liefen ihre Eltern. Ihre Mutter hatte ein verheultes Gesicht, die Schminke war verlaufen und ihre Haare standen wirr vom Kopf ab. Ihr Vater wirkte auf den ersten Blick gefasst, doch Mia wusste, wie es hinter seiner versteinerten Maske wirklich aussah. Plötzlich blieb die Schwester vor einem der Zimmer stehen. „So, Mia. Das hier wird für die nächsten Tage dein Zimmer sein. Deine Mitbewohnerin Lilly ist gerade in der Kunsttherapie. Sie wird also wahrscheinlich ungefähr in 45 Minuten hier vorbei kommen.“  Mit einer auffordernden Geste und einem Lächeln im Gesicht, bedeutete sie Mia und ihren Eltern, das Zimmer zu betreten. Es war nicht besonders groß, aber ausreichend für zwei Personen. Rechts und links stand jeweils ein Bett. In der Mitte standen zwei Schreibtische mit jeweils einem Stuhl davor. Außerdem gab es ein großes Fenster, was den Raum alles in allem recht hell erscheinen ließ. Die Wände waren in einem sonnigen gelb gestrichen. Über einem der beiden Betten waren die Wände komplett kahl. Das war dann wohl Mias neues Heim. Über dem anderen Bett hingen jede Menge Poster von Mädels in engen, schwarzen Corsagen, mit schwarzen Röcken, Piercings und Tattoos. Ja, jemand, der so Poster hat, passt wahrscheinlich hier her, dachte Mia bei sich. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, jetzt hier in einer Psychiatrie zu sein. Das alles, was ihr passiert war, war einfach verrückt, aber war sie deshalb verrückt? In den letzten Wochen hatten viele Menschen mit ihr sprechen wollen. Sie hatte hunderte von Fragen beantwortet. Immer mit Zettel und Stift. Auf der Polizeiwache sollte sie ganz genau beschreiben, was ihr passiert war. Der Polizist hatte ihre Notizen dann abgetippt. Sie sollte die Person, die sie überfallen hat genau beschreiben. Mia war sich nicht sicher, was sie schreiben sollte. Sie notierte die strahlend blauen Augen und die Körpergröße. Von den flügelartigen Dingern sagte sie nichts. Sie erwähnte nur, dass die Person etwas auf dem Rücken hatte, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie konnte in den Augen des Polizisten sehen, dass er ihr die Geschichte nicht wirklich abnahm. Dann kamen auch schon die Fragen zu ihrem Auftritt und ob sie Angst davor hatte. An dem Punkt begann ihre Mutter an zu weinen und flehte sie an, endlich mit ihr zu sprechen. Sie sagte, dass es okay wäre, wenn sie nicht auf die Bühne gehen würde, aber dass sie doch endlich reden sollte und nicht länger an dieser albernen Geschichte festhalten solle.

Dem Psychologen hatte sie noch weniger erzählt. Als sie den Moment aufschreiben sollte, an dem ihr die Stimme gestohlen wurde, schrieb sie nur noch auf, dass sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Danach sprach er in ihrem Beisein noch kurz ein paar Sätze mit ihren Eltern. Sie sei traumatisiert, irgendetwas Schlimmes sei ihr zugestoßen, auch wenn man aus der Geschichte noch nicht wirklich erschließen konnte, was es war. Danach mussten sie auf dem Gang warten, und die Schwester, die jetzt hier war, hatte sie in ihr Zimmer gebracht. „Lilly wird dann auch deine Patin sein. Wenn sie nachher hier ist, zeigt sie dir die Klinik und erklärt dir die wichtigsten Abläufe. Morgen wirst du dann auch erfahren, an welchen Gruppen du teilnehmen sollst.“  Mia ließ sich auf das Bett fallen. Ihr Vater stellte die Sporttasche, die sie am Morgen gepackt hatten auf ihr Bett und legte den Arm um sie. „Okay, mein Mäuschen, es wird jetzt wohl Zeit zu gehen“, sagte er, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mia nickte ihm zu und lächelte müde. Auch ihre Mutter kam jetzt zu ihr, ging vor ihr in die Knie und streichelte ihr über die Wange. Es tat Mia weh zu sehen, wie schlecht es ihr ging. „Tschüss mein Schätzchen. Ich hoffe du kommst hier gut klar und kannst endlich über das reden, was dir… also was da passiert ist.“ Sie wischte sich wieder eine Träne aus dem Gesicht. Dann umarmte sie Mia ganz fest.
Als sie alle das Zimmer verlassen hatten, legte Mia sich auf das Bett. Es tat gut, mal ein paar Minuten alleine zu sein. In den letzten Wochen war ständig jemand in ihr Zimmer geplatzt, wollte nach ihr sehen oder mit ihr zu irgendwelchen Gesprächen gehen. Sie blickte auf die Uhr. Bevor diese Lilly kam hatte sie noch eine gute halbe Stunde Zeit. Doch bei dem Gedanken an ihre Zimmergenossin wurde sie schon wieder nervös. Sie hatte keine Ahnung, was das für Leute waren, die in so einer Jugendpsychiatrie waren. Der Arzt hatte ihr zwar erklärt, dass hier keine Verrückten wohnten, wie man es aus manchen Filmen kannte, sondern einfach Jugendliche, die Probleme in der Schule oder daheim hatten. Manche waren depressiv, litten unter einer Essstörung oder unter Zwängen. Aber das hatte sie nicht wirklich beruhigt. Das alles war ihr einfach zu fremd.

Schon nach wenigen Sekunden hatte sie es vor Unruhe nicht mehr auf dem Bett ausgehalten und so war sie die letzte halbe Stunde immer wieder in dem kleinen Zimmer auf und ab gelaufen, hatte das kleine Badezimmer, das zur Zweier-WG gehörte genauestens unter die Lupe genommen. Ganz so dunkel und böse schien ihre Zimmernachbarin gar nicht zu sein, sie besaß Pinzessin-Lillifee-Shampoo.  Mia saß gerade auf dem Schreibtischstuhl vor ihrem Bett, als die Türe zu ihrem Zimmer auf flog. Das Mädchen, das ins Zimmer geschossen kam, trug einen schwarzen Schlabberpulli, eine schwarze Leggins und einen schwarzen Rock. Auch ihre Haare waren schwarz gefärbt und ihre Augen waren mit einem unregelmäßigen schwarzen Lidstrich umrandet. „Hey, hallo Mia, ich bin Lilly“, brabbelte sie noch im Laufen vor sich hin und streckte ihr die Hand entgegen. Mia blickte verdutzt auf, gab ihr die Hand und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. 
„Das hier muss alles unglaublich neu für dich sein, aber keine Sorge, du wirst dich hier auf jeden Fall einleben. Stimmt das, dass du nicht reden kannst? Egal, ist eigentlich ganz cool, so kann ich schon mehr reden. Ich rede nämlich sowieso immer zu viel. Und die meisten nervt das, weißt du? Weil sie dann selber nicht zu Wort kommen. Aber du kannst ja nicht reden. Dann ist das ja was anderes, oder?“ Mia wusste nicht recht, wie sie auf diesen Redeschwall reagieren sollte, nickte ihr dann einfach zu. „Na gut, dann komm mit, ich zeige dir die Klinik und die ganzen Räume hier, wo wir essen und so. Kommst du?“ Mit den Worten war sie bereits halb zur Türe raus. Mia sprang auf und folgte dem Wirbelwind auf den Flur hinaus. Sie liefen ein ganzes Stück den Gang entlang und erreichten dann ein Treppenhaus. Nachdem sie ein Stockwerk hinunter gegangen waren erklärte Lilly, „hier im Erdgeschoss sind die meisten Gruppentherapieräume, sowie die Küchen. Es gibt eine Großküche, in der das Essen für alle zubereitet wird und eine kleinere, für die Essgruppe. Dort lernen die magersüchtigen und die fetten das richtige kochen und essen auch miteinander. Hier gleich links ist der Speisesaal“, sie zeigte auf eine große Flügeltüre mit zwei runden Gugglöchern darin. „Nachher um 18 Uhr gibt es Essen.“

Als sie wieder im Zimmer ankamen, war Mia total erschöpft und ließ sich erneut auf ihr Bett fallen. Lilly war immer noch am reden. Gerade ließ sie sich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Wer mit wem zusammen war, wer in wen verliebt war – eines der Mädchen war wohl in den leitenden Psychologen verliebt – und wer demnächst gehen würde. Mia brummte der Schädel. Lilly hatte ihr den Speisesaal, die Ergotherapie, die Sporthalle, den Sportplatz draußen, den Gang mit den ganzen Ärztezimmern, das Meditationszimmer, die verschiedenen Aufenthaltsräume und die kleine Bibliothek gezeigt. Hier gab es Bücher, aber auch DVDs, die man sich bei den Schwestern leihen und auf den Fernsehern auf der Station anschauen konnte. Aber nur, nach Absprache mit den anderen auf Station. Ein Mal pro Woche fand meistens ein DVD-Abend statt. Alles in allem schien es hier gar nicht so übel zu sein. Sie hatte auch schon ein paar andere Jugendliche kennen gelernt. Die wirkten so auf den ersten Blick eigentlich ganz normal und waren bei weitem nicht so aufgekratzt wie Lilly. Die meisten kleideten sich auch ganz normal. „So, hast du jetzt noch irgendwelche Fragen?“, beendete Lilly ihren Redeschwall und ließ sich mit roten Bäckchen und einem Grinsen auf ihr Bett fallen. Mia hatte tatsächlich eine Frage im Kopf, wusste aber nicht, ob sie sie stellen sollte. Doch nach kurzem Zögern griff sie nach Stift und Papier und begann zu schreiben. Als sie Lilly das Blatt entgegen streckte, verschwand das Grinsen augenblicklich aus ihrem Gesicht und eine unglaubliche Traurigkeit zeigte sich in ihrem Blick. „Das ist nicht so einfach. Eine lange Geschichte. Ich glaub nicht, dass du sie hören willst.“ Auf dem Blatt stand „Warum bist du hier?“ Lilly hatte zwar zu fast jedem, der ihnen auf dem Gang begegnet war eine Diagnose und eine kurze Lebensgeschichte widergeben können, hatte aber kein Wort darüber verloren, warum sie selber hier war. Erneut griff Mia zu dem Stift und schrieb in die nächste Zeile: „Wenn du sie mir erzählen magst, höre ich gerne zu“ Und in Klammern dahinter „(ich kann ja garnicht anders)“ Darunter malte sie ein riesiges, zwinkerndes Smilie. Als Lilly das las, musste auch sie kurz schmunzeln. „Also gut.“
In der Nacht schliefen beide nur wenig. Lilly hatte ihr erzählt, dass ihr Vater oft gewalttätig wurde. Ihre Mutter traute sich nicht dazwischen zu gehen. Mit 10 war sie das erste Mal von daheim weggelaufen. Kurz war Mia versucht, auch ihre ganze Geschichte zu erzählen. Aber sie hatte Angst davor, ihre neu gewonnene Freundin gleich wieder zu verlieren.


***


Als Mia aufwachte war es dunkel im Zimmer. So ging es ihr, seit sie hier war. Auch die letzten elf Nächte, war sie jede Nacht aufgewacht. Durch das Fenster wehte ein kalter Lufthauch, der den Vorhang zum flattern brachte. Sie fröstelte, also stand sie auf, um das Fenster zu schließen. Sie setzte sich auf den Tisch, um bequemer an den Griff hinter den Vorhang zu kommen. Beim Blick hinaus bemerkte sie, dass diese Nacht besonders viele Sterne zu sehen waren. Sie schloss das Fenster, zog dann vorsichtig den Vorhang ein wenig zur Seite und setzte sich im Schneidersitz auf den Tisch. Sie war ohnehin viel zu wach, um einfach wieder schlafen zu gehen. Die letzten Tage hier in der Klinik waren wirklich anstrengend und sie wollte nichts sehnlicher, als hier weg. Bereits beim ersten Gespräch mit ihrem Psychologen, Herrn Weißner, hatte sie das Gefühl, dass er ihr ihre Geschichte nicht glaubte. Klar, wer würde das auch. Die letzten Male hatte er viel über ihre Familie und Freunde wissen wollen. Aber heute hatte sie das Gefühl gehabt, er denkt, ihr hätte jemand was angetan. Irgendein Gewaltverbrechen. Das war es ja auch irgendwie. Aber eben nicht so, wie er wahrscheinlich dachte. Immer wieder diese Frage, wie nah ihr die Person genau gekommen sei und wo sie sich berührt hatten. Und dann die Fragen danach, ob jemals irgendwer sie berührt hatte, obwohl sie es nicht wollte. Schließlich hatte er ihr erklärt, wie ein Traumagedächtnis funktioniert, dass man dann die Dinge, die man erlebt hat oft nicht mehr in Zusammenhang bringen kann und Gesehenes und Gehörtes zum Beispiel nicht in Einklang zu bringen sind. Außerdem litten wohl viele unter Blackouts. Und dass es schon passieren konnte, dass es einem nach einem schlimmen Erlebnis "die Sprache verschlug". Auch wenn ihr die Fragen oft unangenehm waren, war er eigentlich ganz nett. Und wenn sie wirklich solche Probleme hätte, hätte er ihr vielleicht auch weiterhelfen können.

Aber sie konnte sich sehr wohl an alles erinnern und Blackouts hatte sie auch nicht. Für ihn sah es vielleicht so aus, weil sie seinen Fragen oft mit „weiß ich nicht mehr“ ausgewichen war. In Wahrheit wusste sie noch alles. Sie glaubte nur nicht daran, dass jemand ihre Geschichte ernst nehmen würde. Das alles hier in der Klinik brachte sie nicht weiter. Das Wesen hatte mit ihrer Stimme gesprochen. Sie war nicht irgendwie traumatisiert. Sie musste das jetzt selber in die Hand nehmen. Aber dafür musste sie erst einmal hier raus.

Sooo, das nächste Mal geht es dann wohl mit ihrem Ausbruchsversuch weiter :-)

liebe Grüße,
Sabi

2 Kommentare:

  1. Huhu, schöne Folge, aber ich verstehe diesen Satz nicht ganz "Mia blickte verdutzt auf und gab ihr die Hand. „Äh, hi“, sagte sie verunsichert. " Ich dachte, dass sie nicht sprechen kann?

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  2. *lach* Verdammt... weißt du, wie viele solcher Stellen ich schon gelöscht und umgeschrieben hab, weil es irgendwie garnicht so einfach ist, die Sprache für einen Prota komplett weg zu lassen :D
    Gerade hier in den ersten Szenen ist mir das sooo oft passiert :D
    Danke für den Hinweis, werds gleich mal korrigieren *g*

    Freut mich, dass es dir ansonsten gefällt :-)

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