hier ist das dritte Kapitel zu meinem Blogroman "Stille". Dieses Mal geht es wieder bei Mia weiter.
Wenn ihr gerade zum ersten Mal hier beim Blogroman gelandet seid oder die letzte Folge verpasst habt:
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Kapitel 3
Wie
benebelt lief sie durch die weißen Flure des Krankenhauses. Links und rechts
eine Tür nach der anderen, Ärzte und Schwestern, die an ihnen vorbei eilten
oder ihr aufmunternd zu lächelten. Vor ihr lief eine Schwester im weißen Kittel.
Hinter ihr liefen ihre Eltern. Ihre Mutter hatte ein verheultes Gesicht, die
Schminke war verlaufen und ihre Haare standen wirr vom Kopf ab. Ihr Vater
wirkte auf den ersten Blick gefasst, doch Mia wusste, wie es hinter seiner
versteinerten Maske wirklich aussah. Plötzlich blieb die Schwester vor einem
der Zimmer stehen. „So, Mia. Das hier wird für die nächsten Tage dein Zimmer
sein. Deine Mitbewohnerin Lilly ist gerade in der Kunsttherapie. Sie wird also
wahrscheinlich ungefähr in 45 Minuten hier vorbei kommen.“ Mit einer auffordernden Geste und einem
Lächeln im Gesicht, bedeutete sie Mia und ihren Eltern, das Zimmer zu betreten.
Es war nicht besonders groß, aber ausreichend für zwei Personen.
Rechts und links stand jeweils ein Bett. In der Mitte standen zwei
Schreibtische mit jeweils einem Stuhl davor. Außerdem gab es ein großes
Fenster, was den Raum alles in allem recht hell erscheinen ließ. Die Wände
waren in einem sonnigen gelb gestrichen. Über einem der beiden Betten waren die
Wände komplett kahl. Das war dann wohl Mias neues Heim. Über dem anderen Bett
hingen jede Menge Poster von Mädels in engen, schwarzen Corsagen, mit schwarzen
Röcken, Piercings und Tattoos. Ja,
jemand, der so Poster hat, passt wahrscheinlich hier her, dachte Mia bei
sich. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, jetzt hier in einer
Psychiatrie zu sein. Das alles, was ihr passiert war, war einfach verrückt,
aber war sie deshalb verrückt? In den
letzten Wochen hatten viele Menschen mit ihr sprechen wollen. Sie hatte
hunderte von Fragen beantwortet. Immer mit Zettel und Stift. Auf der Polizeiwache
sollte sie ganz genau beschreiben, was ihr passiert war. Der Polizist hatte
ihre Notizen dann abgetippt. Sie sollte die Person, die sie
überfallen hat genau beschreiben. Mia war sich nicht sicher, was sie
schreiben sollte. Sie notierte die strahlend blauen Augen und die Körpergröße.
Von den flügelartigen Dingern sagte sie nichts. Sie erwähnte nur, dass die Person
etwas auf dem Rücken hatte, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie konnte in den Augen des Polizisten sehen, dass
er ihr die Geschichte nicht wirklich abnahm. Dann kamen auch schon die Fragen
zu ihrem Auftritt und ob sie Angst davor hatte. An dem Punkt begann ihre Mutter
an zu weinen und flehte sie an, endlich mit ihr zu sprechen. Sie sagte, dass es
okay wäre, wenn sie nicht auf die Bühne gehen würde, aber dass sie doch endlich
reden sollte und nicht länger an dieser albernen Geschichte festhalten solle.
Dem
Psychologen hatte sie noch weniger erzählt. Als sie den Moment aufschreiben
sollte, an dem ihr die Stimme gestohlen wurde, schrieb sie nur noch auf, dass
sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Danach sprach er in ihrem Beisein
noch kurz ein paar Sätze mit ihren Eltern. Sie sei traumatisiert, irgendetwas
Schlimmes sei ihr zugestoßen, auch wenn man aus der Geschichte noch nicht
wirklich erschließen konnte, was es war. Danach mussten sie auf dem Gang
warten, und die Schwester, die jetzt hier war, hatte sie in ihr Zimmer
gebracht. „Lilly wird dann auch deine Patin sein. Wenn sie nachher hier ist,
zeigt sie dir die Klinik und erklärt dir die wichtigsten Abläufe. Morgen wirst
du dann auch erfahren, an welchen Gruppen du teilnehmen sollst.“ Mia ließ sich auf das
Bett fallen. Ihr Vater stellte die Sporttasche, die sie am Morgen gepackt
hatten auf ihr Bett und legte den Arm um sie. „Okay, mein Mäuschen, es wird
jetzt wohl Zeit zu gehen“, sagte er, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mia
nickte ihm zu und lächelte müde. Auch ihre Mutter kam jetzt zu ihr, ging vor
ihr in die Knie und streichelte ihr über die Wange. Es tat Mia weh zu sehen,
wie schlecht es ihr ging. „Tschüss mein Schätzchen. Ich hoffe du kommst hier
gut klar und kannst endlich über das reden, was dir… also was da passiert ist.“
Sie wischte sich wieder eine Träne aus dem Gesicht. Dann umarmte sie Mia ganz
fest.
Als sie
alle das Zimmer verlassen hatten, legte Mia sich auf das Bett. Es tat gut, mal
ein paar Minuten alleine zu sein. In den letzten Wochen war ständig jemand in
ihr Zimmer geplatzt, wollte nach ihr sehen oder mit ihr zu irgendwelchen
Gesprächen gehen. Sie blickte auf die Uhr. Bevor diese Lilly kam hatte sie noch
eine gute halbe Stunde Zeit. Doch bei dem Gedanken an ihre Zimmergenossin wurde
sie schon wieder nervös. Sie hatte keine Ahnung, was das für Leute waren, die
in so einer Jugendpsychiatrie waren. Der Arzt hatte ihr zwar erklärt, dass hier
keine Verrückten wohnten, wie man es aus manchen Filmen kannte, sondern einfach
Jugendliche, die Probleme in der Schule oder daheim hatten. Manche waren
depressiv, litten unter einer Essstörung oder unter Zwängen. Aber das hatte sie
nicht wirklich beruhigt. Das alles war ihr einfach zu fremd.
Schon
nach wenigen Sekunden hatte sie es vor Unruhe nicht mehr auf dem Bett
ausgehalten und so war sie die letzte halbe Stunde immer wieder in dem kleinen
Zimmer auf und ab gelaufen, hatte das kleine Badezimmer, das zur Zweier-WG
gehörte genauestens unter die Lupe genommen. Ganz so dunkel und böse schien
ihre Zimmernachbarin gar nicht zu sein, sie besaß Pinzessin-Lillifee-Shampoo. Mia saß gerade auf dem Schreibtischstuhl vor
ihrem Bett, als die Türe zu ihrem Zimmer auf flog. Das Mädchen, das ins Zimmer
geschossen kam, trug einen schwarzen Schlabberpulli, eine schwarze Leggins und
einen schwarzen Rock. Auch ihre Haare waren schwarz gefärbt und ihre Augen
waren mit einem unregelmäßigen schwarzen Lidstrich umrandet. „Hey, hallo Mia,
ich bin Lilly“, brabbelte sie noch im Laufen vor sich hin und streckte ihr die
Hand entgegen. Mia blickte verdutzt auf, gab ihr die Hand und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen.
„Das
hier muss alles unglaublich neu für dich sein, aber keine Sorge, du wirst dich
hier auf jeden Fall einleben. Stimmt das, dass du nicht reden kannst? Egal, ist
eigentlich ganz cool, so kann ich schon mehr reden. Ich rede nämlich sowieso
immer zu viel. Und die meisten nervt das, weißt du? Weil sie dann selber nicht
zu Wort kommen. Aber du kannst ja nicht reden. Dann ist das ja was anderes,
oder?“ Mia wusste nicht recht, wie sie auf diesen Redeschwall reagieren sollte,
nickte ihr dann einfach zu. „Na gut, dann komm mit, ich zeige dir die Klinik
und die ganzen Räume hier, wo wir essen und so. Kommst du?“ Mit den Worten war
sie bereits halb zur Türe raus. Mia sprang auf und folgte dem Wirbelwind auf
den Flur hinaus. Sie liefen ein ganzes Stück den Gang entlang und erreichten
dann ein Treppenhaus. Nachdem sie ein Stockwerk hinunter gegangen waren
erklärte Lilly, „hier im Erdgeschoss sind die meisten Gruppentherapieräume,
sowie die Küchen. Es gibt eine Großküche, in der das Essen für alle zubereitet
wird und eine kleinere, für die Essgruppe. Dort lernen die magersüchtigen und
die fetten das richtige kochen und essen auch miteinander. Hier gleich links
ist der Speisesaal“, sie zeigte auf eine große Flügeltüre mit zwei runden
Gugglöchern darin. „Nachher um 18 Uhr gibt es Essen.“
Als sie
wieder im Zimmer ankamen, war Mia total erschöpft und ließ sich erneut auf ihr Bett fallen. Lilly war immer noch am reden. Gerade ließ sie sich über den
neuesten Klatsch und Tratsch aus. Wer mit wem zusammen war, wer in wen verliebt
war – eines der Mädchen war wohl in den leitenden Psychologen verliebt – und
wer demnächst gehen würde. Mia brummte der Schädel. Lilly hatte ihr den
Speisesaal, die Ergotherapie, die Sporthalle, den Sportplatz draußen, den Gang
mit den ganzen Ärztezimmern, das Meditationszimmer, die verschiedenen
Aufenthaltsräume und die kleine Bibliothek gezeigt. Hier gab es Bücher, aber
auch DVDs, die man sich bei den Schwestern leihen und auf den Fernsehern auf
der Station anschauen konnte. Aber nur, nach Absprache mit den anderen auf
Station. Ein Mal pro Woche fand meistens ein DVD-Abend statt. Alles in allem
schien es hier gar nicht so übel zu sein. Sie hatte auch schon ein paar andere
Jugendliche kennen gelernt. Die wirkten so auf den ersten Blick eigentlich ganz
normal und waren bei weitem nicht so aufgekratzt wie Lilly. Die meisten kleideten
sich auch ganz normal. „So, hast du jetzt noch irgendwelche Fragen?“, beendete
Lilly ihren Redeschwall und ließ sich mit roten Bäckchen und einem Grinsen auf
ihr Bett fallen. Mia hatte tatsächlich eine Frage im Kopf, wusste aber nicht,
ob sie sie stellen sollte. Doch nach kurzem Zögern griff sie nach Stift und
Papier und begann zu schreiben. Als sie Lilly das Blatt entgegen streckte,
verschwand das Grinsen augenblicklich aus ihrem Gesicht und eine unglaubliche
Traurigkeit zeigte sich in ihrem Blick. „Das ist nicht so einfach. Eine lange
Geschichte. Ich glaub nicht, dass du sie hören willst.“ Auf dem Blatt stand
„Warum bist du hier?“ Lilly hatte zwar zu fast jedem, der ihnen auf dem Gang
begegnet war eine Diagnose und eine kurze Lebensgeschichte widergeben können,
hatte aber kein Wort darüber verloren, warum sie selber hier war. Erneut griff
Mia zu dem Stift und schrieb in die nächste Zeile: „Wenn du sie mir erzählen
magst, höre ich gerne zu“ Und in Klammern dahinter „(ich kann ja garnicht
anders)“ Darunter malte sie ein riesiges, zwinkerndes Smilie. Als Lilly das
las, musste auch sie kurz schmunzeln. „Also gut.“
In der Nacht schliefen beide nur wenig. Lilly hatte ihr erzählt, dass ihr Vater oft gewalttätig wurde. Ihre Mutter traute sich nicht dazwischen zu gehen. Mit 10 war sie das erste Mal von daheim weggelaufen. Kurz war Mia versucht, auch ihre ganze Geschichte zu erzählen. Aber sie hatte Angst davor, ihre neu gewonnene Freundin gleich wieder zu verlieren.
Aber sie konnte sich sehr wohl an alles erinnern und Blackouts hatte sie auch nicht. Für ihn sah es vielleicht so aus, weil sie seinen Fragen oft mit „weiß ich nicht mehr“ ausgewichen war. In Wahrheit wusste sie noch alles. Sie glaubte nur nicht daran, dass jemand ihre Geschichte ernst nehmen würde. Das alles hier in der Klinik brachte sie nicht weiter. Das Wesen hatte mit ihrer Stimme gesprochen. Sie war nicht irgendwie traumatisiert. Sie musste das jetzt selber in die Hand nehmen. Aber dafür musste sie erst einmal hier raus.
In der Nacht schliefen beide nur wenig. Lilly hatte ihr erzählt, dass ihr Vater oft gewalttätig wurde. Ihre Mutter traute sich nicht dazwischen zu gehen. Mit 10 war sie das erste Mal von daheim weggelaufen. Kurz war Mia versucht, auch ihre ganze Geschichte zu erzählen. Aber sie hatte Angst davor, ihre neu gewonnene Freundin gleich wieder zu verlieren.
***
Als Mia
aufwachte war es dunkel im Zimmer. So ging es ihr, seit sie hier war. Auch die letzten elf Nächte, war sie jede Nacht aufgewacht. Durch das Fenster wehte ein kalter
Lufthauch, der den Vorhang zum flattern brachte. Sie fröstelte, also stand sie
auf, um das Fenster zu schließen. Sie setzte sich auf den Tisch, um bequemer an
den Griff hinter den Vorhang zu kommen. Beim Blick hinaus bemerkte sie, dass
diese Nacht besonders viele Sterne zu sehen waren. Sie schloss das Fenster, zog
dann vorsichtig den Vorhang ein wenig zur Seite und setzte sich im
Schneidersitz auf den Tisch. Sie war ohnehin viel zu wach, um einfach wieder
schlafen zu gehen. Die letzten Tage hier in der Klinik waren wirklich
anstrengend und sie wollte nichts sehnlicher, als hier weg. Bereits beim ersten
Gespräch mit ihrem Psychologen, Herrn Weißner, hatte sie das Gefühl, dass er
ihr ihre Geschichte nicht glaubte. Klar, wer würde das auch. Die letzten Male hatte er viel über ihre Familie und Freunde wissen wollen. Aber heute hatte
sie das Gefühl gehabt, er denkt, ihr hätte jemand was angetan. Irgendein Gewaltverbrechen. Das war es ja auch irgendwie. Aber eben nicht so, wie er wahrscheinlich dachte. Immer wieder diese Frage,
wie nah ihr die Person genau gekommen sei und wo sie sich berührt hatten. Und
dann die Fragen danach, ob jemals irgendwer sie berührt hatte, obwohl sie es
nicht wollte. Schließlich hatte er ihr erklärt, wie ein Traumagedächtnis
funktioniert, dass man dann die Dinge, die man erlebt hat oft nicht mehr
in Zusammenhang bringen kann und Gesehenes und Gehörtes zum Beispiel nicht in
Einklang zu bringen sind. Außerdem litten wohl viele unter Blackouts. Und dass es schon passieren
konnte, dass es einem nach einem schlimmen Erlebnis "die Sprache verschlug". Auch wenn ihr die Fragen oft unangenehm waren, war er eigentlich ganz nett. Und wenn sie wirklich solche Probleme hätte, hätte er ihr vielleicht auch weiterhelfen können.
Sooo, das nächste Mal geht es dann wohl mit ihrem Ausbruchsversuch weiter :-)
liebe Grüße,
liebe Grüße,
Sabi
Huhu, schöne Folge, aber ich verstehe diesen Satz nicht ganz "Mia blickte verdutzt auf und gab ihr die Hand. „Äh, hi“, sagte sie verunsichert. " Ich dachte, dass sie nicht sprechen kann?
AntwortenLöschen*lach* Verdammt... weißt du, wie viele solcher Stellen ich schon gelöscht und umgeschrieben hab, weil es irgendwie garnicht so einfach ist, die Sprache für einen Prota komplett weg zu lassen :D
AntwortenLöschenGerade hier in den ersten Szenen ist mir das sooo oft passiert :D
Danke für den Hinweis, werds gleich mal korrigieren *g*
Freut mich, dass es dir ansonsten gefällt :-)