Der Sichelmörder
Das Feuer prasselte und fauchte und Tony war froh, einen
Platz so dicht an der Feuerstelle ergattert zu haben. Denn langsam wurde es
kalt hier draußen und die gesamte Gruppe begann, sich am Feuer einzufinden.
Nachdem es schon beinahe heruntergebrannt war, hatten die Jugendlichen es
erneut entfacht. Am frühen Abend waren sie an dem kleinen Grillplatz mitten im
Wald angekommen, hatten die Boxen aufgestellt, das Fleisch, den Fußball und das
Bier ausgepackt, wovon aber kein
Erwachsener je erfahren durfte. Es gab sogar eine richtige Torte. Markus hatte
sie gebacken. Er war der beste Freund von Tim, Tonys großem Bruder, der an
diesem Abend seinen 16. Geburtstag feierte. Tony war sowieso nur dabei, weil
ihre Eltern es so wollten. Sie selbst wollten an diesem Abend nämlich ins
Theater. Also sollten Tim und seine Freunde Babysitter spielen. Dabei war Tony
schon 10 und brauchte eigentlich keinen Babysitter mehr. Trotzdem war er froh,
dass es so gekommen war. Er hätte ansonsten keine Chance gehabt, bei dieser
Party dabei zu sein. Der Abend war bisher eigentlich ganz lustig verlaufen. Sie
hatten Fußball gespielt, gegrillt, mit dem Feuer experimentiert und sich
Ausreden für die Brandlöcher in ihrer Kleidung einfallen lassen. Die älteren
Jungs ärgerten ihn zwar manchmal, da er jünger war, aber die meiste Zeit,
versuchten sie ihn eigentlich mit einzubeziehen, so dass Tony sich an diesem
Abend schon wie ein richtiger Jugendlicher fühlte. Er durfte sogar einen
Schluck Bier probieren. Es schmeckte abscheulich, was er sich natürlich nicht
anmerken ließ. Es war mittlerweile so dunkel, dass man abseits vom Feuer nur
noch dunkle Schemen erkennen konnte. Der Mond war kaum mehr als eine schmale
Sichel und das Licht der Sterne reichte kaum aus, die Umgebung zu erhellen.
Mittlerweile saßen alle 10 Jugendlichen um das Feuer herum. Nachdem sie einige
Zeit gesungen hatten -Mike hatte seine Gitarre dabei und konnte so ziemlich
jedes Lied begleiten- begann Markus immer wieder gruselige
Kommentare einzuwerfen, wie es zum Beispiel wäre, wenn hier im Wald eine Hexe
wohnen würde, die sie heute Nacht überfällt. Oder dass das Knistern das sie so
eben aus dem Unterholz gehört hatten von einem Werwolf stammen würde. Oder,
dass der Sichelmond bedeutete, dass heute Nacht der Sichelmörder herumwandern
würde. Eine Art böser Miraculix, der mit seiner Sichel Menschenherzen erntet.
Sie begannen, sich eine Geschichte nach der anderen zu erzählen. Einige davon
kannte Tony bereits. Er erkannte veränderte Versionen der Gänsehaut
Geschichten, die er so gerne las, eine Geschichte, die er vor kurzem im
Fernsehen in einer Reportage über Geister gehört hatte und auch eine gruselige
und ziemlich makabre Version von Hänsel und Gretel. Anfangs fand er die Geschichten spannend und verspürte
immer wieder ein leichtes Kribbeln und bekam eine Gänsehaut an den gruseligen
Stellen. Doch langsam wurde er müde und immer wieder fielen ihm die Augen zu.
Irgendwann, als er gerade kurz davor war einzuschlafen, boxte Markus ihm gegen
die Schulter. „Hey, Tony nicht schlafen! Sonst holen dich die Waldwesen.“ Tony
sah ihn genervt an. „Ich bin zwar jünger als ihr, aber verarschen braucht ihr
mich nicht. Ich weiß, dass es so etwas wie Geister, Werwölfe und Hexen nicht
gibt.“ Markus grinste. „Da hast du Recht, aber von denen rede ich ja auch gar nicht.
Hat dir noch keiner erzählt, dass dieser Wald verflucht ist? Es droht keine
Gefahr, solange man wach bleibt. Aber sobald du schläfst, schleichen sich
sonderbare Wesen an dich heran. Einige sind Vögel mit einem Raubtiergebiss, andere
sehen aus wie Schlangen, denen Beine wachsen, wenn sie sie brauchen. Sie sind
schneller als alles, was du je gesehen hast!“ Langsam wurde Tony doch nervös.
Er wusste, dass die Geschichten erfunden waren und dass Markus ihn anlog.
Trotzdem beschloss er nun, diese Nacht wohl besser wach zu bleiben. Vor allem, um
sich vor den anderen Jugendlichen nicht zu blamieren, wenn er als einziger
einschlafen würde. Er setzte sich aufrecht hin, hüllte sich in eine Decke und
versuchte, den Geschichten der anderen zu folgen.
Als Tony die Augen öffnete, blickte er erschrocken um sich. Es war keiner mehr
da. Er blickte auf seine Uhr. Sie zeigte 2:34. Er konnte nicht lange geschlafen
haben. Höchstens vier oder fünf Minuten. Er konnte sich erinnern, dass jemand
vor kurzem nach der Uhrzeit gefragt hatte. Da war es kurz vor halb drei
gewesen. Das Feuer brannte auch noch unverändert. „Hey, Leute, wo seid ihr?“ Er
bekam keine Antwort. „Haha, sehr witzig. Und jetzt kommen bestimmt gleich die
Waldwesen und holen mich. Ich hab es kapiert, ihr könnt raus kommen. Ihr könnt
mir keine Angst einjagen.“ Tony versuchte selbstbewusst zu klingen, doch er
merkte, dass seine Stimme zitterte und ein kalter Schauer seinen Rücken hinab
lief. Hinter ihm knackte es im Geäst. Hastig drehte er sich um. „Tim? Komm
raus, das ist nicht lustig.“ Wieder ein knacken, dieses Mal von der anderen
Seite des Grillplatzes und lauter. Er drehte sich ruckartig um. Auf der anderen
Seite des Platzes stieg Nebel auf. Aber irgendetwas an dem Nebel war seltsam.
Als Tony begriff, was den Nebel so andersartig erscheinen ließ, erstarrte er
vor Schreck. Der Nebel leuchtete. Nur ganz leicht, kaum sichtbar. Und doch ging
von der wabernden Masse ein leichtes Glimmen aus. Nun bekam Tony Panik. Was war
aus den anderen geworden? Waren sie von diesem Nebel bereits geholt worden?
Aber warum war er dann noch hier? Was sollte das hier alles? Seine Gedanken
rasten, er wusste, dass er irgendetwas tun sollte, doch sein Körper reagierte
nicht. Er konnte nur wie gebannt auf den Nebel starren und krallte sich mit
seinen kalten Händen an einer Wurzel fest. Im Nebel tauchte nun eine Gestalt
auf. Sie war groß und dürr und blieb am Waldrand stehen. Tony glaubte, so etwas
wie einen Umhang zu erkennen. In der Hand trug die Gestalt etwas. Es war ein
Stock, oder, nein, es war eine Sichel! Oder so etwas Ähnliches. Sie war größer
und sah aus, als hätte sie jemand in die Länge gezogen, genau wie ihren Träger.
Neben der Gestalt tauchte nun ein weiterer Umriss auf. Es war ein Wolf. Ein
viel zu großer Wolf. Ein sehr kräftiger Wolf. Er fletschte die Zähne und begann
seine Flügel auszubreiten. Es waren schwarze Schwingen, die den Nebel
aufwirbelten und das Laub rauschen ließ. Tony krallte seine Finger fester um
die Wuzel, als diese plötzlich nachgab. Sie wurde weich und irgendwie glatt und
pulsierte. Der Schreck darüber ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Er
sprang auf. Gerade noch rechtzeitig. Hinter ihm schnappten die Kiefer einer
Schlange zusammen. Er rannte los. Blindlings in den Wald hinein. Äste schlugen
ihm ins Gesicht und zerkratzen seine Arme. Hin und wieder glaubte er, dass ein
Ast nach ihm griff oder ein Pilz ihm in den Weg sprang. Doch er war sich nicht
mehr sicher, was Realität und Einbildung war. Hinter ihm hörte er das Rauschen
großer Schwingen. Der Wind der Schwingen ließ das Laub um ihn herum aufwirbeln
und die Äste knacken. Der Wolf begann zu heulen, es hörte sich an, wie das
Jagdgeheul eines ganzen Wolfrudels. Tonys Knie wurden weich. Es fiel ihm immer
schwerer, den Ästen auszuweichen. Immer wieder blieb er hängen, stolperte, fiel
fast hin. Als er sich kurz umblickte, sah er etwas längliches, das über den
Boden jagte, sich abstieß und dann etwas höher in den Bäumen landete und sich
an den Ästen entlang schlängelte. Die Schuppen auf dem Holz machten ein
schabendes Geräusch. Er hörte ein zischen und fauchen, das nur immer wieder vom
heulen des Wolfes übertönt wurde. Er rannte weiter, stolperte über Äste,
zerriss sich seine Kleidung an Dornen, sprang über Gebüsche und kleine Bäche.
Seine Beine taten ihm mittlerweile weh, als er auf eine Wurzel trat und
abrutschte. Ein höllischer Schmerz durchfuhr sein rechtes Bein. Er verlor das
Gleichgewicht und wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne geschleudert, konnte
sich aber gerade noch an einem Baum abstützen, bevor er fiel. Trotz des brennenden Schmerzes in
seinem rechten Bein rannte er weiter. Er war nun erfüllt von blanker Panik. Er
wusste, dass er mit seinem schmerzenden Bein nicht mehr weit kommen würde. Plötzlich
war der Wald zu Ende. Vor ihm lag eine Wiese, ein leichter Abhang. Er rannte
weiter, als er auf Einmal von einer Windböe erfasst wurde. Er blickte nach
oben. Der Wolf flog über ihn hinweg. Seine Schwingen verdunkelten den Himmel.
Sie waren mindestens drei oder vier Meter breit. Als er hinter sich blickte,
erkannte er auf dem Boden die Schlange, die auf sechs Beinen hinter ihm her
galoppierte, wobei sich ihr Körper seltsam wand. Die Schuppen der Schlange
erzeugten ein Rascheln, das klang, als würde jemand mit Fingernägeln über eine
Tafel kratzen. Hinter der Schlange war der Mann mit der Sichel. Er schien
langsam und gemächlich voran zu schreiten, trotzdem blieb der Abstand zwischen
ihnen gleich. Tonys Herz raste, seine Lunge brannte. Als er wieder nach vorne
blickte, stand dort der Wolf. Er hatte ihn überholt und war vor ihm gelandet,
um ihm den Weg abzuschneiden. Entkräftet blieb Tony stehen und sank auf den
Boden. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper. Als er
sah, wie die Gestalten auf ihn zu kamen schloss er die Augen. Er hörte das
Schnauben des Wolfes und das markerschütterne Rascheln der Schlange. Es war
alles zu vorbei. Er würde sterben. Plötzlich spürte er, wie er in die Luft
gerissen wurde. Ein kalter Wind fuhr durch seine zerrissenen Kleider. Er
rechnete damit, jederzeit zerquetscht zu werden. Doch nichts geschah. Ganz im
Gegenteil. Es tat nicht einmal weh. Er öffnete die Augen. Unter sich sah er die
Landschaft dahin ziehen. Er sah die Wiesen und Wälder seiner Heimat und etwas
weiter entfernt auch das Dorf, in dem er wohnte. All das würde er wohl nie wieder
sehen. Er merkte, dass es riesige Klauen waren, die ihn festhielten. Die
Erkenntnis kam ihm erst nach einigen Sekunden. Klauen? Vogelklauen? Das hieß,
es war keines der Wesen, die ihn verfolgt hatten, das ihn nun mit sich trug. Er
versuchte seinen Kopf so zu drehen, dass er sehen konnte, was ihn da
eingefangen hatte. Mit einiger Anstrengung schaffte er es und erkannte den
Schnabel eines Vogels. Als er nach hinten blickte erkannte er, wie die
Silhouette des geflügelten Wolfes am Horizont zurück blieb. War das nun ein gutes
oder ein schlechtes Zeichen? Hatte der
Vogel ihn gerettet, oder würde er seinen Küken zum Frühstück serviert werden?
Der Gedanke an einen riesigen Adlerhorst mit menschengroßen Jungvögeln, die ihn
zerreißen würden, ließ ihn erneut erschaudern.
Der Flug schien ewig zu dauern. Als der Vogel schließlich
langsam an Höhe verlor war von dem Sichelmann und den anderen Kreaturen schon
lange nicht mehr zu sehen gewesen. Der Vogel landete ihn einem kleinen Waldstück
und legte ihn auf dem Boden ab. Schützend hielt Tony die Hände über seinen
Kopf. Immer noch rechnete er damit, als Vogelfutter zu enden. Doch es passierte
nichts. Als er seinen Kopf hob und die Augen öffnete sah er, dass der Vogel ein
paar Schritte von ihm zurück getreten war, so dass Tony ihn nun in seiner
ganzen Gestalt betrachten konnte. Er war über zwei Meter groß und hatte die
Körperform eines Raben. Doch es war kein Rabe. Sein Gefieder war zwar
größtenteils schwarz, doch um den Hals herum sah es aus, als würde er eine
gelbe Kette tragen und an den Flügeln hatte er rote Federn die zu leuchten und
zu glitzern schienen. Wie gebannt betrachtete er dieses wunderschöne,
faszinierende Wesen. Der Vogel blickte ihn aus dunklen Augen an. Langsam verschwand
Tonys Angst. Plötzlich blickte der Vogel auf und schaute in den Wald hinter
ihm. Auch Tony blickte sich um. Er konnte Licht sehen. Wie von einem Feuer. Und
er hörte Stimmen, vertraute Stimmen. Er drehte sich erneut zu dem Vogel um. Dieser
sah erst ihn an und dann erneut hinter ihm in den Wald. „Geh, “ schien sein
Blick zu sagen. „Danke,“ sagte Tony, ohne zu wissen, ob der Vogel ihn verstehen
konnte. Immer noch etwas unsicher drehte er sich um und ging auf die Stimmen
zu. Er blickte sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass der Vogel ihn
nicht doch noch anfiel, um ihn zu fressen. Doch er stand einfach da, und
beobachtete ihn. Als Tony den Waldrand
erreichte, sah er seinen Bruder und Markus am Feuer inmitten der anderen
sitzen. Und er sah sich selbst, friedlich schlafend zwischen den anderen
liegen, als ihn auf einmal eine bleierne Müdigkeit überfiel. Als er die Augen
wieder öffnete lag er bei den anderen am warmen Feuer. Er blickte an sich
herab. Keine Kratzspuren. Alles nur ein
Traum. Er lächelte. Einen Traum, der sich so echt anfühlte, hatte er schon
lange nicht mehr gehabt. Als er sich umdrehte und in den Himmel blickte hatte
er kurz den Eindruck, vor den Sternen die schwarze Silhouette eines riesigen Vogels
entlang ziehen zu sehen, die leicht rot schimmerte, wenn er mit den Flügeln
schlug. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Nur ein Traum.
Diesen Monat dabei:
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eine sehr spannende geschichte! habe mit tny mit gefiebert und wollte wissen wie es endet :)
AntwortenLöschendanke für die schöne geschichte!!
Hey Schreibfee :)
Löschenfreut mich, dass sie dir gefällt! Dankeschön :)